Die Blöcke der Freiheit: Wie das Bouldern in Main-Spessart begann

Vor Jahrzehnten zog Andreas Häfele (51) mit Gleichgesinnten durch die Wälder von Main-Spessart, immer auf der Suche nach unentdeckten Sandstein-Blöcken. Heute erinnert nur noch wenig an diese wilden Anfangstage. Doch für den ehemaligen Deutschlandcup-Kletterer sind die Felsen mehr als bloße Steine – sie sind lebendige Zeugen einer Ära voller Entdeckergeist und Abenteuer.

Inhalt

Vom Keller in die Wälder: Wie Bouldern zum Abenteuer wurde

Häfeles Bouldergeschichte begann Mitte der 80er-Jahre, als das Klettern maßgeblich an Seil und Felswand stattfand. Bouldern – also, Klettern in Absprunghöhe – war noch keine eigene Sportart. „Wir boulderten in Kellern und Scheunen. Reines Technik-Training, um den Winter zu überbrücken“, erinnert er sich.Als ein alter Schulfreund ihm die ersten Blöcke zeigt, entfacht er in Häfele die Leidenschaft fürs Bouldern in freier Natur. Schon bald darauf beginnt der Lohrer, die Region systematisch zu erkunden und gezielt nach weiteren Möglichkeiten zu suchen. „Es gab ja nichts: kein Internet, keine Karten.“Geführt von seiner Neugier und einem Gespür für Geografie entwickelt Häfele seine ganz eigenen Theorien: Wenn auf einer Mainseite Felsen stehen, müssen auf der anderen ebenfalls welche sein. Sein Entdeckerdrang treibt ihn immer weiter. Und wenn ihn sein Bauchgefühl leitet, sucht er selbst bei Gewitter oder bis tief in die Nacht nach neuen Blöcken.Sobald er einen Fels gefunden hat, erwartet den Kletterer vor allem eines: harte Arbeit.

Mann am Baum

Blut, Schweiß und Sandstein: Die Erschließung der Felsen

Mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter stürzt sich Häfele in die Erschließung der Boulderblöcke – Abenteuer und harte Arbeit zugleich. Die jungen Männer wuchten mit Seilgreifzügen tonnenschwere Steine, um Standflächen unter Blöcken zu schaffen, und legen mit Schaufel und Spaten ganze Felsen frei. Der „Tempel“ in Harrbach – ein acht Meter breiter Block mit einem Dachüberhang von viereinhalb Metern – war einer ihrer spektakulärsten Funde. „Das war unser Weißer Wal.“Häfele und seine Freunde machen nicht nur die Felsen in Main-Spessart zugänglich. Auch in anderen Regionen erschließen sie neue Klettergebiete. 

Sie bewerten die Schwierigkeitsgrade, zeichnen die Routen in sogenannten Topos auf und setzen Haken für die Seilsicherung. Für seine Leidenschaft investiert der Lohrer schon mal sein gesamtes Ferienjob-Geld in einen Akkubohrer; der mit heutigen Geräten wenig zu tun hatte.  „Für 3.000 DM konnte ich genau vier Löcher bohren – dann war der Akku leer.“ Eine fast schon ehrfürchtige Hingabe treibt die jungen Männer an. Das Gefühl, etwas Neues zu schaffen.

Vom Geheimtipp zur Subkultur: Bouldern wird zum Sport

In den 2000er entwickelte sich das Bouldern zur Subkultur und zog immer mehr Outdoor- und Sportfans an. Aus Angst, dass die Blöcke überrannt werden, halten Häfele und seine Gemeinschaft vieles geheim.Dann schiebt der Körper seiner Passion einen Riegel vor. Rückenprobleme, vor allem durch das ständige Abspringen, machen ihm zu schaffen. Erst da veröffentlicht er seinen Boulderführer, ein kleines Buch mit handgezeichneten Topos, in dem er Kletterrouten und Schwierigkeitsgrade beschreibt. 40 Exemplare lässt er drucken – dann fährt er in den Urlaub.Genau zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 2010, veröffentlicht die Fachzeitschrift Klettern einen Artikel über ihn. Als er zurück aus den Ferien ist, sind über 500 Bestellungen für seinen Boulderführer eingegangen.

Kind klettert

Häfele fürchtete nun, das Gebiet könnte überrannt werden: „Ich hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren.“ Doch das Szenario blieb aus, denn „die meisten Kletterer draußen gehen sorgsam mit der Natur um.“Das Verantwortungsgefühl sei auch heute noch groß: Blöcke sauber bürsten, Moos entfernen, Müll sammeln. Der Sport habe trotz Einzug in den Mainstream in dieser Beziehung wenig von seinem Ursprung verloren.

Von den Wäldern in die Halle: Der Wandel des Boulderns

Das Bouldern hat sich seit Häfeles Pioniertagen dennoch verändert. „Früher war Klettern draußen eine ganzheitliche Freizeitbeschäftigung.“ Heute klettern viele in einer Halle, ohne je einen Felsen berührt zu haben. Der sportliche Aspekt habe zwar seine Berechtigung, aber für den Pionier bleibt die Verbindung zur Natur essenziell: „Damals haben wir am Fels geschlafen, sind morgens aufgewacht und waren die Einzigen weit und breit. Das war Freiheit.“

Kompromisse in der Natur: Klettern mit Verantwortung

Häfele hat durch das Klettern auch gelernt, wie wichtig der Dialog mit anderen Interessengruppen ist. Denn oft wurde die Kletterei kritisch beäugt. „Manche dachten, wir würden mit unseren Matten und Seilen den Wald zerstören.“ Teilweise erleben sie Aggression und werden verjagt. Statt Konfrontation suchen er und seine Freunde immer wieder das Gespräch – und finden Kompromisse: Sie entmüllen einen Steinbruch, hängen für Naturschützer Brutkästen am Fels auf und verdienen sich so den Zugang. Er empfiehlt allen Outdoorsportlerinnen und -sportlern, dies zu beherzigen. „Es geht immer darum, die Interessen aller zu respektieren.“

Der Funk bleibt

Andreas Häfele verweilt lange an den Steinen in Adelsberg, die er so lange nicht besucht hat; berührt die bekannten Griffe im Fels, macht Fotos. Er sagt, er sei schon stolz zu sehen, dass die von ihm erschlossenen Felsen immer noch genutzt werden. Und während er die vertrauten Blöcke am Zollberg betrachtet, lächelt er: „Manche Dinge ändern sich nie – und das ist gut so.“

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