Menschen in seelischen Notlagen können sich rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr telefonisch an das Krisennetzwerk Unterfranken wenden. Mit 9.000 Anrufen jährlich ist es ein zunehmend gesuchter Ansprechpartner. Im November 2020, also vor rund fünf Jahren, ging es mit regionaler Rufnummer an den Start – seit 1. März 2021 ist es die bayernweite Rufnummer 0800/6553000.
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„Krisen sind sehr individuell, wir bewerten sie auch nicht, denn was den einen in den Abgrund stürzt, ist für einen anderen Menschen überhaupt kein Problem.“
Menschen in seelischen Notlagen
In der unterfränkischen Leitstelle in Lohr hilft ein 17-köpfiges Team aus Fachleuten allen Menschen in psychosozialen Notlagen oder auch Angehörigen und gibt ihnen Halt. Neben der psychologischen Leiterin Alexandra Blattner und der ärztlichen Leiterin Dr. Simona Kralik sind Psychologen, Sozialpädagogen, Fachkrankenpfleger Psychiatrie und eine Teamassistenz im Team.
Im 24-Stunden-Telefondienst
Im 24-Stunden-Telefondienst rufen Menschen an, die an Depressionen oder Angstzuständen leiden. Sie sorgen sich wegen der Wirtschaftskrise, Kriegen, Klima oder Kriminalität. Andere haben finanzielle Sorgen, sind mit Beruf oder Privatleben überfordert, leiden an persönlichen Schicksalsschlägen wie Krankheit, Trauerfällen oder familiären Konflikten. Sie alle erhalten im Krisennetzwerk professionelle Hilfe.
Wir fragten bei Sozialpädagogin Selma Ries nach, was ihre Tätigkeit, vor allem die Konfrontation mit persönlichen Schicksalsschlägen, mit ihr selbst macht. „Wir haben eine professionelle Rolle. Ich habe ja bewusst diesen Beruf gewählt, in dem eine gewisse Haltung verlangt wird. Man muss empathisch sein, sich in einen anderen Menschen hineinversetzen und mitfühlen können, aber dennoch eine gewisse Distanz wahren, was nicht immer einfach ist“, bekennt die sympathische 34-Jährige. Eine Person, die sie kenne, könne sie nicht so unabhängig beraten wie eine Unbekannte von ihrer Arbeit aus. Ihr Computer steht in einem gemütlichen Büro mit Pflanzen, einer Couch und einem im Team gestalteten Kunstwerk an der Wand mit Blick ins Grüne.
Schneller Beistand in schwierigen Lebenssituationen
Selma Ries und die Kollegen im Team haben alle bereits ein paar Jahre Berufserfahrung bei der Begleitung von Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Sie arbeitete etwa fünf Jahre in Köln in einer Wohngruppe, wo Menschen mit Suchterkrankungen lebten. Während es damals um längerfristige Kontakte ging, ist es nun im Krisennetzwerk Unterfranken wichtig, schnelle, verfügbare Hilfe zu geben.
„Rituale im Büro sind für mich ganz wichtig: wenn ich meine Brille aufsetze, komme ich in den Arbeitsmodus. Durchschnittlich dauert ein Gespräch 20 Minuten. Manchmal reichen schon fünf Minuten, um in einer Kurzberatung als menschlicher Anker weiterzuhelfen, ein anderes Mal dauert es bis zu einer Stunde. Dann versuche ich herauszufinden, was gerade das Wichtigste ist, das den Menschen belastet.“ Sie fragt nach, ob jemand allein oder eine Bezugsperson in der Nähe ist, klärt, in welcher Situation sich die hilfesuchende Person gerade befindet. Ist jemand den Tränen nah, kann kaum sprechen, beruhigt sie, rät zum Glas Wasser, macht kleine Wahrnehmungs- und Achtsamkeitsübungen. „Das klingt erst einmal einfach, ist es aber in so einem Moment nicht immer.“
Schlimmste Momente sind für alle im Team, wenn akute Suizidgedanken geäußert werden – hier ist dann ein gutes Netz entscheidend. „Ich höre zu, spreche mit der Person, während je nach Bedarf meine Kollegen mit unseren Kooperationspartnern dann alles in die Wege leiten, um dem verzweifelten Menschen zu helfen.“ Dafür hat das Krisennetzwerk Unterfranken auch noch mobile Einsatzteams rund um die Uhr zur Verfügung, um vor Ort eine Krisenintervention bei der betroffenen Person anzubieten.
Teils belastende Beratungen
Obwohl professionell im Einsatz, könne ein Gespräch so nah gehen, dass ein Teammitglied ein Telefonat an einen Kollegen abgibt. „Wir sind in der Leitstelle immer mindestens zu zweit, eine der Leiterinnen ist fast immer für uns ansprechbar.“ Es gebe Fälle oder Themen, die einem selbst nahe gehen, weil sie vielleicht das eigene persönliche Umfeld betreffen, man gleich alt ist. So passiere es schon, dass man nach einem emotional anstrengenden Gespräch dreimal durchatmen müsse, Raum und Zeit zum Innehalten oder für einen Austausch brauche. In der Einarbeitungszeit im April 2024 habe sie bei manchen Problemschilderungen ein anderes Teammitglied um Hilfe gebeten, weil dieses sich etwa besser auskannte im Kinder- und Jugendbereich oder in der psychiatrischen Medikation.
Am Arbeitsplatz schätzt sie sehr die Arbeit im Team, weil alle ein Krisenverständnis haben und etwa alle sechs Wochen gemeinsam Fälle besprechen. „Wir können die Themen hierlassen.“ So ist Selma Ries dankbar, nicht im Homeoffice zu sein, obwohl das rein theoretisch durchs Telefonieren mit den Klienten technisch möglich wäre.
Selbstfürsorge ist wichtig
Wie kann man abschalten nach einem anstrengenden Tag am Telefon? „Mir hilft viel Bewegung direkt nach der Arbeit. Im Sommer gehe ich gern im Main schwimmen, fahre Fahrrad, bin draußen und im Wald unterwegs.“ Zuhause warten ihre zwei Katzen. „Weil ich hier Kopftätigkeit leiste, mache ich in der Freizeit gern viel mit den Händen. Im Garten arbeiten, im älteren Haus etwas renovieren, gutes Essen kochen, mit anderen lecker essen.“ Stichwort: Selbstfürsorge.
Selma Ries liebt zudem ihre sozialen Kontakte – sich mit Freunden treffen oder mit ihnen telefonieren. Dann ist sie dankbar, im Gespräch mit ihnen auch einmal monologisieren zu dürfen. „Wenn es einmal ausgesprochen ist, dann habe ich es ein Stück losgelassen.“ Was für die Sozialpädagogin in ihrem Beruf hilfreich ist: Im Krisenzentrum arbeitet sie zu 60 Prozent, als Ausgleich gibt sie noch Reha-Sportkurse bei einem Sportverein.
